Kein Grund, wepsig zu werden!

Ein Artikel der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 27.08.2020, http://sz.de/1.5010969, Panorama, 27.08.2020

Von Titus Arnu

Sie stürzen sich auf Bratwürste, Limo und Kuchen, sind schwarz-gelb gestreift und tauchen meistens in Massen auf. Nein, die Rede ist nicht von Borussia-Dortmund-Fans. Sondern von Wespen, den vielleicht lästigsten Sommergästen, die einen heimsuchen können. Die stachelbewehrten Minimonster sind ungefähr so beliebt wie Blutegel, Fußpilz und Staubsaugervertreter zusammen. Was bei Windows der „schwere Ausnahmefehler“ ist, scheint in der Natur die Wespe zu sein – verhasst, zu nichts nütze, ein Unfall der Evolution.

Wespen sind als „Arschlöcher mit Flügeln“ verschrien, das kann man sogar auf einer Regionalseite des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) lesen. Die Leute vom BUND gehören eigentlich eher zur Minderheit der Wespenversteher. Die Mehrheit der Wespenhasser sieht in den summenden Nervensägen vor allem eine Bedrohung der Freiluft-Kaffeetafel, es ist ja kaum möglich, einen Zwetschgendatschi zu verzehren, ohne von einer signalgelb gestreiften Flugstaffel attackiert zu werden. Die Biester kommen aus dem Nichts und terrorisieren ihre Opfer so lange, bis der Kuchen kampflos an den Feind übergeben wird. Alles Wedeln, Pusten und Fuchteln hilft nichts.

Aber warum gelten eigentlich gerade die Wespen als Aggro-Assis der Luft? Bienen stechen auch, aber in der Serie „Biene Maja“ sind trotzdem immer die Wespen die Bösen. Für die Bienen unterschreiben Millionen Unterstützer bei Volksbegehren, ein Wespen-Begehren würde wohl kaum jemand unterstützen, es sei denn, es hätte die Abschaffung der Wespen zum Ziel. Hummeln entlocken dem Menschen ein Lächeln, vielleicht weil die pelzigen Brummkugeln das Kindchenschema erfüllen und in Kinderliedern als Sympathieträger vorkommen. Wespen kommen höchstens in schlechten Horrorfilmen vor.

Das ist alles ziemlich unfair den Wespen gegenüber. Höchste Zeit also für die Ehrenrettung der Familie Vespina aus der Ordnung der Hautflügler. Die meisten Vorurteile entstehen ja durch Unwissenheit, kombiniert mit einem diffusen Bedrohungsgefühl.

14 Arten, die meisten sind ganz brav

Anruf also bei Daniela Franzisi, einer hauptamtlichen Wespenversteherin. „Das Gift der Honigbiene ist viel wirksamer, trotzdem haben die meisten Menschen mehr Angst vor Wespen und Hornissen“, sagt sie. Franzisi betreut beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu) das Projekt „Insektensommer“, das zum Ziel hat, Privatpersonen in einem bestimmten Zeitraum alle Insekten in Gärten, in Parks und auf Balkonen zählen zu lassen, möglichst wertfrei. Auch wenn die schwarz-gelben Luftpiraten großräumig Angst verbreiten.

Gegen Angst helfen Fakten, deshalb stellt Franzisi erst einmal klar, dass „die Wespe“ genauso wenig existiert wie „der Wurm“ oder „der Vogel“. Die Insekten, die einem den Grill- und Kuchengenuss so gründlich vermiesen können, heißen Deutsche Wespe und Gemeine Wespe. „Es sind nur diese beiden Vertreter, die ihrer ganzen Zunft ein schlechtes Image bringen“, sagt Daniela Franzisi. In Deutschland gibt es weitere 14 Wespenarten, die weniger verhaltensauffällig sind als die Deutsche und die Gemeine, weltweit sind rund 60 Arten bekannt. Die meisten davon saugen nur Nektar und lassen Obstkuchenesser in Ruhe.

Aber die Gemeine und die Deutsche Wespe haben den Ruf der Art nachhaltig beschädigt, bis in die Umgangssprache hinein. In Bayern nennt man jemanden „wepsig“, wenn er nicht stillsitzen kann und total nervt. Das kommt vom Substantiv „der Weps“, der Plural lautet „die Wepsen“. Übrigens nicht zu verwechseln mit den Wepsen, einem finno-ugrischen Volk, das in Nordwestrussland lebt und laut einer Volkszählung im Jahr 2010 aus nur noch 5936 Wepsen bestand, von denen 2362 wepsisch sprechen.

Welche Sprache die Deutsche Wespe spricht, weiß dagegen niemand, Deutsch jedenfalls nicht. Während die Bienentänze bis in die kleinste Drehung der Hinterleibe erforscht wurden, weiß man über das Kulturgut der Wespe erstaunlich wenig.

Dafür weiß man, dass in jedem Wespennest mehr Wespen leben als finno-ugrische Wepsen auf der ganzen Welt: Ein Wespenstaat besteht aus 5000 bis 8000 Tieren. Wespen schwirren so zahlreich herum, dass sie als wichtige Nahrungsquelle für andere Tiere gelten, etwa für den Wespenbussard. Dieser Raubvogel hat sich auf Wespen spezialisiert, sein dichtes Gefieder verhindert Stiche. Auch einige Reptilien und Amphibien fressen Wespen. Ihrerseits verspeisen die Wespen Schädlinge wie Raupen, Blattläuse und Heuschrecken. Wenn es keine Wespen gäbe, wären andere nervige Insekten in der Überzahl. Ein Wespenvolk futtert ein halbes bis zwei Kilogramm Insekten, täglich.

Beim Vertilgen von anderen Insekten sind Wespen ähnlich konsequent wie beim Zerlegen eines Zwetschgen-Streuselkuchens. Wenn die Wespe eine Fliege fängt, trennt sie ihr in einem ritualisierten Ablauf Beine, Flügel und Hinterleib ab. Nur der muskelbepackte Brustabschnitt bleibt übrig. Diesen kaut die Wespe gut durch und verfüttert die Masse dann ordentlich an die eigenen Larven. Anstatt dieses feinsinnige Filetieren und Pürieren zu würdigen, passt das Fressverhalten aus Sicht des Menschen in das Bild der unsympathischen Kampfwespe – wobei das Fressverhalten des Menschen, besonders beim Grillen von Hühnerbrust oder Rinderfilet, sich ja nicht allzu sehr unterscheidet.

Wespen können aber noch viel mehr. Die Gemeine Wespe zersetzt das Holz morscher Bäume, was Mikroorganismen, anderen Insekten und somit dem Wald insgesamt hilft. Wie viele andere Fluginsekten bestäuben Wespen auch Blüten. Im Gegensatz zu Bienen, die nur bei Sonnenschein ausschwärmen, fliegen Wespen auch bei schlechtem Wetter. Das ist Einsatz!

Ohne sie wäre die Natur also ein gutes Stück karger, sagen Wespenversteher. Und Wespenhasser würden hinzufügen: auch ein Stückchen sicherer. Denn Wespen können fies stechen, und zwar nicht wie die Bienen nur einmal, sondern mehrmals hintereinander. „Wir sind immer fixiert auf die lieben Honigbienen, obwohl diese auch stechen“, sagt Daniela Franzisi. Die Wespe ist für den Menschen eben kein Nutztier wie die Biene, sie gilt offiziell als „Lästling“, zu dieser Kategorie zählen Tiere wie die Wanze, die Zecke, die Stechmücke, die Blattlaus oder der Silberfisch.

Ablenkfütterung mit Weintrauben!

Eine friedliche Koexistenz mit Wespen sei möglich, sagen Wespenversteher. Wespenhasser tauschen derweil Tipps für die effektive Abwehr aus. Wedeln? Macht Wespen nur noch aggressiver, weil sie sich bedroht fühlen. Anpusten? Schlechte Idee, das Kohlendioxid in der Atemluft ist ein Angriffssignal. Besser ist es, Wespenmagneten wie Süßes, Fleisch und Obst abzudecken und nach dem Essen gleich abzuräumen, raten Experten. Oder man versucht es mit einer „Ablenkfütterung“ ein paar Meter neben dem Esstisch. Die Schülerinnen Maike Sieler und Henrike Weidemann fanden bei einem Experiment für „Jugend forscht“ heraus, dass sich überreife Weintrauben dazu am besten eignen.

Gier nach zuckerhaltigen Getränken, Fleisch und süßem Gebäck – das sind eigentlich Gelüste, für die Menschen Verständnis haben müssten. Und es gibt aus biologischer Sicht auch eine nachvollziehbare Erklärung dafür. „Die Tiere brauchen viel Zucker und Proteine, um schnell zu Energie zu kommen“, sagt Expertin Franzisi. „Sie sind im August dabei, die Brut in ihrem Stock zu versorgen, deshalb greifen sie gerne beim Fast Food zu.“

Kann man ihnen das verdenken? Zumal sie keinen Müll dabei produzieren. Wespen existierten schon, als der Mensch noch nicht erfunden war, und sie haben es in vielen Millionen Jahren geschafft, unseren Planeten nicht zu verwüsten. Daran könnte sich so mancher Wespenhasser ein Beispiel nehmen.

Titus Arnu

Titus Arnu, geboren 1966 in Laufenburg (Schweiz), schreibt vor allem für die Ressorts Gesellschaft, Stil und Panorama. Zuvor war er beim Magazin SZ Wissen, schrieb für das SZ-Magazin, Spiegel, Geo, Natur und Mare. Er besuchte die Deutsche Journalistenschule und studierte Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Journalistik in München. Lieblingsthemen: Berge, Natur, Sport, Reisen und Genuss.